Fassungslos durch den Tag

Bei der Auswahl der Crew kann es sich durchaus lohnen, musikalische DNA-Proben zu entnehmen und zu analysieren

Fassungslos durch den Tag

Über Jahrzehnte klang Musik im Cockpit einer Yacht wie die Lustschreie eines andalusischen Esels während der Maultier-Zeugung, begleitet auf Blechtrommel, Blockflöte und Fichtenmoped. Doch mit der Zeit wurden die Sound-Boxen auf modernen Yachten immer besser – ein Umstand, der Crewmitglieder mitunter zum musikalischen Persönlichkeits-Striptease verleitet. Nicht etwa ihres außerordentlichen musikalischen Talentes wegen. Nein, sie unterliegen eher dem inneren Zwang, andere Menschen gegen deren Willen mit so genannten Ohrwürmern zu beglücken.
Nun war mir das Wort „Ohrwurm“ schon immer suspekt, schließlich ist der gemeine Wurm nur bei Anglern positiv besetzt. Die musikalischen Psychogramme einzelner Radaubrüder führen eher dazu, dass sich Mitsegler wie Würmer krümmen, während der Verursacher seine musikalische DNA allen anderen Menschen an Bord beharrlich aufs Ohr drückt.
Die mit Abstand beeindruckendste Performance dieser Art lieferte einst das Duo „Blader Franz“ und „Dürrer Hans“ ab. (Um die beiden Niederösterreicher nicht öffentlich bloßzustellen, habe ich ihre Namen geändert, sprich Hans und Franz ausgetauscht.) Irgendwie waren die beiden zufällig in meine Crew gerutscht. „Shit happens“, sagt der Angelsachse in so einem Fall. Jenem Ex-Freund, der die beiden vermittelt hatte, habe ich inzwischen das Du-Wort entzogen.
Kurz nach dem Auslaufen aus unserem Ausgangshafen Ancona fragte der Blade, ob er das Steuer übernehmen dürfe. Noch sprach nichts dagegen, also räumte ich den Platz am Rad und freute mich über die Segelbegeisterung an Bord. Ohne meine Kurseinweisung abzuwarten, brüllte der Blade dem Dürren im Salon zu: „Dirra! Und jetz‘ die Ansa-Numma! Oba heit‘ no und volles Rohr!“
Von unheilvoller Vorahnung befallen, versteinerten alle anderen an ihren Arbeitspositionen, während der Blade zu stampfen und zu trommeln begann. Dabei war das Worst-Case-Szenario akustisch noch gar nicht erkennbar. Das Steuerrad mutierte zu einem optischen Booster, der Blade hielt konsequent seinen Kurs zwischen 25 und 85 Grad am Wind.
Als die Boxen schließlich schwer übersteuert zu brodeln und spratzeln anfingen, ploppte auch noch der Dürre wie der Korken einer Sektflasche aus dem Niedergang. Bewaffnet mit Kochtopf und Schneebesen schlug er einen Takt, der mit dem Lautsprecher-Krawall nicht das Geringste zu tun hatte.
Dem Mann an der Genuaschot fiel die Winschkurbel aus den Fingern auf die Zehen. Das Mädel am Traveller starrte mit schreckgeweiteten Augen ins Leere. Ein Bursch an der Kante band reflexartig einen französischen Henkersknoten in den Tampen der Reffleine, ein zweiter bewegte die trockenen Lippen stimmlos zu den Worten „Mamma mia!“
Schon nach sieben Minuten einer verheißungsvollen Segelwoche hatte ich die Kontrolle über mein Schiff restlos verloren. Die beiden Wahnwitzigen brüllten stampfend und trommelnd im Duett asynchron zu den Lautsprechern etwa folgenden Text in den noch jungen Tag:
„Atemlos durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht!
Atemlos einfach raus, deine Augen ziehen mich aus!
Atemlos durch die Nacht, spür' was Liebe mit uns macht!
Atemlos, schwindelfrei, großes Kino für uns zwei.“
Atemnot überkam mich. Meine Kindheit begann als Schwarzweiß-Film an meinem geistigen Auge vorbeizuziehen. Nach und nach wurde mir klar, dass es sich um ein Nahtoderlebnis handeln musste. Dieser Verdacht erhärtete sich viel schneller als befürchtet.
„Wende! Wende! Wende!“ brüllte Stefan aus dem Niedergang. Die Todesangst verlieh seiner Stimme die Kraft, selbst dieses unheilige Spektakel zu übertönen. Er stolperte zurück zum Kartentisch, drückte die Off-Taste des VHF-Empfängers fast durch die Bordwand und schoss die Best-of-Helene-Fischer-CD wie eine Frisbee-Scheibe ins Vorschiff.
Der Blade war in Schlangenlinien auf den vorgelagerten Wellenbrecher zugerast. Alle anderen hatten … ich muss es leider sagen ... hatten atemlos auf des Teufels Steuermann und daher nicht in Fahrtrichtung gestarrt. Die folgende (eher stümperhafte) Wende drehte uns direkt in den Schoß der Guardia Finanza, die sich offensichtlich wegen der ungewöhnlichen Lärmbelästigung unauffällig angepirscht hatte. Die Wasserpolizisten machten ihr Patrouillenboot in der Sekunde an unserer Backbordseite fest, enterten die Yacht und verlangten mürrisch nach unseren Papieren. Mein Stoßgebet, dass die Pässe des Bladen und des Dürren rein zufällig abgelaufen sein könnten, verpuffte leider auf seinem Weg gen Himmel.
Zum Schluss fragte einer der Beamten höhnisch, wer denn der Skipper dieses Narrenschiffes sei. „Helene Fischer!“, rief Stefan aus dem Salon.
Mit einem keineswegs stimmlosen „Mamma mia!“ schwang sich der Uniformierte zurück ins Patrouillenboot, welches sich grantig brummend entfernte.
Seither findet bei mir an Bord die Ausgabe von Rettungswesten nur noch im Gegenzug zur Beschlagnahme aller persönlichen CDs statt.

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