Zwischen Hölle und Himmel

Sommerferien V*. Über eine gar wundersame Zeitreise von San Marco nach San Giorgio

Zwischen Hölle und Himmel

Venedig, Markusplatz, ein Hochsommertag, Touristen aus aller Welt. Eine Familie aus Wien macht auf sich aufmerksam: „Ich will mit einer Gondel fahren und wir fahren süücha nüücht mit der Wappler-Rettung“, protestiert der dreizehnjährige Florian auf dem Bootssteg Nr. 15 nahe der Piazza San Marco lautstark. „Dasch heischt Vaporetto“, zischt die entnervte Mutter durch zusammengepresste Zahnreihen. „Wappler-Rettung! Wappler-Rettung!“, frohlocken Florian und seine vollends aufgehetzte, zehnjährige Schwester Manuela provokant.
In the meantime versucht ein kaum vierzigjähriger Vater mit schneeweißen Haaren einen kaum vierjährigen Brüllaffen mit knallrotem Gesicht zu bändigen. Ich bin mir nicht sicher, ob er ihm die Jacke anzieht und dabei so tut, als würde er ihn verprügeln, oder ob er ihn verprügelt und dabei so tut, als würde er ihm die Jacke anziehen. Zwei patrouillierende Carabinieri halten sich die Ohren zu und schauen ostentativ in die andere Richtung, während der kleine Maximilian im Sekundentakt alternierend „will Rikscha!“ und „will Gondel!“ brüllt. Die Tauben verweigern die Nahrung.
Kein einziger der gut zweihundert unfreiwilligen Zuschauer und Zuhörer kommt auf die Idee, dass es sich hierbei um einen Gewaltakt an einem Kind handeln könnte. In diesem Punkt sind sich Russen und Amerikaner, Chinesen und Japaner, Griechen und Türken, Engländer und Iren, Kroaten und Serben einig. Das Mitleid für den Papa ist hingegen ebenso grenzenlos wie international.
Im Manager-Jargon würde man sagen: Beim familieninternen Vaporetto-Marketing gibt es noch Luft nach oben.
Die Ankunft des Wasserbusses erlöst uns. Händchenhaltend wie ein junges Liebespaar fahren wir nach 32 Jahren Ehe Richtung San Giorgio. Die unausgesprochene Botschaft: „ Gott sei Dank haben wir das alles längst hinter uns!“ Die Rikscha-Gondel-Kreissäge wird nach und nach vom Brummen des Dieselmotors übertönt.
Mit ein paar freundlichen Worten verschaffen wir uns Zugang zur Marina San Giorgio. Ja, diesen Hotspot könnten wir uns als permanenten Liegeplatz für unsere fiktive Yacht sehr gut vorstellen. Man wird ja noch träumen dürfen. Unvergleichlich der Blick auf den am anderen Ufer liegenden Markusplatz. Und wie friedlich er da liegt, in sicherer Entfernung!
Beim Rundgang durch die Marina fällt uns eine Yacht unter schwedischer Flagge auf. Eine Familie macht sich gerade klar zum Ablegen. Der strohblonde Sechsjährige kämpft verbissen aber erfolgreich mit den bockigen Festmacher-Leinen, die strohblonde Neunjährige wartet an der Muring auf ein Kommando, der strohblonde Vierzehnjährige steht am Ruder, die strohblonde Sechzehnjährige holt die Gangway ein. Der strohblonde Vater gibt mit freundlichem Augenaufschlag wortlos die Kommandos. Die strohblonde Mutter sitzt im Cockpit und liest ein Buch. Die Bästa Vila (Übersetzt: Schönste Ruhe) gleitet fast lautlos durch den engen Hafen. Alle vier Kinder winken dem Marinero zu. Arrivederci Venezia!
Wieder stillschweigendes Händchenhalten. Doch diesmal bedeutet es: „Leider haben wir das alles längst hinter uns.“ Was haben wir nicht alles erleben dürfen! Diese Ruhe, diesen Frieden, diese Eintracht, dieses leidenschaftliche, uneingeschränkte Interesse für die hohe Kunst des Segelns …
Brüllaffen? Pubertierende Querulanten? Kreischende Tussen? Süücha nüücht auf unserem Schiff! Okay, man neigt mitunter dazu, die Vergangenheit ein bisserl zu verklären. Realistisch betrachtet haben wir wohl eine gesunde Mischung aus San-Marco-Szenario und San-Giorgio-Szenario erlebt. Und überlebt. Aber eines ist sicher: Wir glauben nach wie vor ganz fest an das „Wunder Familientörn“.
*Immer in den Sommerferien-Monaten Juli und August ist die Kolumne „Abdrift“ dem „Wunder Familientörn“ gewidmet.

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