Ressort
Kein Ressort gesetzt!
„Ein Segelboot konnte Schmerz und Freude empfinden, Hoffnung und Verzweiflung; es konnte aufgeschlossen sein oder mürrisch, gut erzogen oder verletzend, eine Dame oder eine Hure. Und jedes Segelboot hatte eine eigene Individualität, etwas Besonderes, das es von allen anderen Booten, selbst denen derselben Klasse, unterschied: Es hatte ganz sicher auch eine Seele.“ So steht’s geschrieben in „Tinkerbelle, Allein über den Ozean.“ Verfasst von Robert Manry, einem Redakteur bei der US-Tageszeitung Cleveland Plain Dealer, der für diese 3,200 Meilen lange Nonstop Reise über den Atlantik im Jahr 1965 ganze 78 Tage benötigte. Das Buch, das seit Jahrzehnten in seinem zerschlissenen Hochglanzumschlag in meinem Buchregal vor sich hingammelte, fiel mir unlängst auf den Kopf. Zum Glück. Denn es ist mehrfach bemerkenswert, besonders in einer Zeit, in der sogenannte „Influencer“ gerne das gähnende Nichts an die große Glocke hängen und dafür Geld nehmen. Ganz anders Manry, der sein Unternehmen in Eigenregie vorbereitet und finanziert hatte, und es auch geheim hielt, bis es für sich zu sprechen begann. Und dies tat es sehr eloquent, denn Tinkerbelle, sein damals schon 36 Jahre altes Trailerboot, war nur 4,1 Meter lang und galt als das kleinste Segelboot, das bis dahin den großen Teich ohne Halt überquert hatte. Er kaufte das Regattadingi als Wrack, das er abdichten und umbauen musste, um mit Familie auf Binnengewässern rund um Cleveland Wochenend- und Urlaubstörns zu segeln. Aber eigentlich wollte er auch über den Atlantik, doch sein Bekannter, der dieses Abenteuer gemeinsam auf einem „riesigen“ 7-Meter Boot wagen wollte, bekam kalte Füße. Also beschloss Manry, die eigne Nußschale für eine Ozeanüberquerung fit zu machen und sie dann zum Start an die US-Ostküste zu trailern. Auch sonst hat mich dieses Buch gefreut, weil die deutsche Ausgabe in Wien erschienen ist, im Verlag Fritz Molden, aus dem „Amerikanischen“ übertragen von Günter Schlichting. Dass darin altbackene Ausdrücke wie „in See stechen“, „Hauptsegel“ oder „Walfisch“ vorkommen, sieht man gerne nach, weil es irgendwie gut dazu passt und keinem damit Schaden widerfährt. Alles in allem ist Tinkerbelle eine sehr zufriedenstellende Lektüre, die daran erinnert, dass Dinge mal zumindest ein bisschen Substanz hatten, bevor sie an die große Glocke kamen.