Die Butterseite der Vergesslichkeit
Anfängerfehler. Von Beginn an alles falsch zu machen, hat manchmal auch seine nachhaltige Richtigkeit
Für das 11. Jahr meiner Kolumne „Abdrift“ hab‘ ich ein paar soziale Vorsätze gefasst.
1. Mach‘ dich nicht über Anfänger lustig, du warst vor ein paar Tagen (ca. 17.000) selber einer. Und du stellst dich manchmal immer noch wie einer an.
2. Mach‘ dich nicht dauernd über die spürbar steigende Vergesslichkeit deiner Crew lustig. Du bist selber nicht mehr der Jüngste! Und Vergesslichkeit hat auch eine Butterseite.
3... hab‘ ich vergessen.
Hoffentlich halten meine heiligen drei Vorsätze diesmal länger als bis zu den Heiligen Drei Königen.
Zu Vorsatz 1: Vor dem Traum einer Karriere als Skipper versuchte ich mein Glück als Surfer. Nein, es ist NICHT lustig, wenn ihr mich jetzt fragt, ob ich Surfer im Internet gewesen sei. Jenes existierte – ebenso wie Kitesurfen und Foilen – noch nicht einmal als utopische Vision. Mein erster Triumph auf einem Surfboard erreichte trotzdem sporthistorische Bedeutung: Weltweit bin ich der einzige Surfer, der einen Trockensturz beherrscht.
Wie man das schafft? Segel (ohne Blickfenster) auf der Backbord-Seite. Der des Surfens mächtige ältere Bruder Steuerbord voraus. Mein Blick bleibt gebannt auf diesen erfahrenen, in jeder Hinsicht vorbildlichen Athleten gerichtet. Jetzt ruft er mir etwas zu. Ich johle vergnügt zurück: „Ist das leiwand!“ („Wie geil ist das denn!“ johlte man damals noch nicht.)
Im Nachhinein erfahre ich, dass es sich um eine Warnung gehandelt habe: „Nicht abfallen!“ Unmittelbar nach diesem Zuruf kommt es irgendwo zwischen Mörbisch und Rust zu einem bis Illmitz hörbaren Donnerschlag. Dort, am östlichen Ufer des Neusiedler Sees, befürchtet man, dass die Kulisse für die Operette „Zigeunerbaron“ auf der Seebühne Mörbisch in sich zusammengekracht ist.
Doch es kracht nur der Bug meines Brettes gegen den Pfeiler des höchst aggressiven Anlegestegs einer Wochenendhütte. Der Mast knickt an der Steg-Kante und verabschiedet sich samt Rigg achteraus. Ich hingegen schlage eine zirkusreife Todesspirale aus Flick-Flack und Backbord-Voraus-Salto, lande erst auf dem Kopf und schlitterte schließlich ärschlings über die Bretter. Vor den Füßen eines verblüfften Ehepaares, das gerade beim Kaffeetscherl sitzt, bleibe ich liegen. Die schockierte Frau im geblümten Bademantel zerquetscht ihr Butterkipferl zwischen den Fingern.
In meiner Steuerbord-Arschbacke steckt ein sieben Zentimeter langer Schiefer aus solidem Lärchenholz. Zum Glück besitzt der Hausherr nicht nur eine Kombizange (Pinzette unterqualifiziert), sondern auch – ungeachtet des ungebetenen Eindringens in seine Privatsphäre – über Humor: „Den Steg zahlst ma!“
Ich bin – wie erwähnt – staubtrocken. (Das Guinnessbuch ignoriert diesen Weltrekord seit 47 Jahren beharrlich.) Wie durch ein Wunder bleibe ich unverletzt; von ein paar Blutspritzern abgesehen. Trotzdem beschließt mein Bruder – damals Medizinstudent – genau in diesem Augenblick, nicht Unfall-Chirurg, sondern Internist zu werden. Das Risiko, womöglich täglich einen ähnlichen Volltrottel behandeln zu müssen, erscheint ihm viel zu hoch.
Jetzt zu meinem zweiten Vorsatz für 2023: Toleranz bei Vergesslichkeit.
Besagtem Bruder bin ich unendlich dankbar, dass er auch mein zweites und unwiderruflich letztes Surf-Desaster in diesem Leben in nobler Diskretion vergessen hat: Vor dem Wind fuhr‘ ich im Mündungsbereich des Tagliamento bei Bibione flussabwärts. Hätte er mich durch den brachialen Einsatz seines Körpers nicht zur Strandung gezwungen, wäre ich irgendwann ausgehungert im kroatischen Pula gelandet. So aber muss ich lediglich fünf Kilometer Höhe laufen. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes: Während mein Bruder lässig den Tagliamento bergauf kreuzt, latsche ich bloßen Fußes mit Board und Rigg am Buckel zu unserem Auto zurück.
Eine kleine Bitte an euch, liebe Leserinnen: Seid bitte so lieb, vergesst diese Geschichte so schnell wie möglich! Sie tut dem männlichen Ego nicht gut.