Im Griff der Tide
Die Seenomaden Doris Renoldner und Wolfgang Slanec berichten von schwierigen Bedingungen an der US-Westküste
Überfahrtwetter ist vorausgesagt. Nordwest mit Stärke drei bis vier. Das ist unser Wind! Er wird uns die Küste Oregons hinunterwehen. Nach dem Abendessen beugen wir uns über die Seekarten. Tüfteln, wann wir morgen Bamfield, an der Südwestseite von Vancouver Island, verlassen wollen und was unser erster Anlaufpunkt in den USA sein könnte. Wolf nimmt den Kartenzirkel zur Hand: „Lass uns ins 260 Seemeilen entfernte Newport segeln, die Einfahrt dort soll relativ problemlos sein.“ Die Oregon-Küste hat einen schlechten Ruf: Flach wie die Adriaküste in Italien, dazu Sandbänke und der ewig heranrollende Pazifikschwell, Tidenströme und heikle Flusseinfahrten zu den wenigen Häfen.
Dichte Nebelbänke empfangen uns westlich der Juan de Fuca Strait. Vorwindkurs. Die Genua ist zu zwei Drittel ausgerollt, ins Groß haben wir ein Reff gebunden. Mit sechs bis sieben Knoten rauschen wir nach Süden. Wir hören Plätschern, Gurgeln und das Tuten der Nebelhörner, zu sehen ist nur graue Suppe. Gespenstisch. Einige Fischerboote senden kein AIS-Signal, nur das Radarecho verrät ihre Existenz. In der Nacht sind sie beleuchtet wie Christbäume, so erkennen wir sie schon von weitem am hellen Lichterschein. Wie ein Komet zieht Nomad durch die Nacht, hinterlässt ein funkelnd weißes Kielwasser. Faszinierendes Meeresleuchten.
Nach zwei Tagen auf See geistert eine Frage durch mein Hirn: Wann genau müssen wir bei der Einfahrtstonne von Newport sein? Hier regiert die Tide, hier herrscht Dynamik, stete Veränderung. Demut vor den Gezeiten ist oberstes Gebot. Das Wasser steigt, das Wasser sinkt. Die Ankunft muss minutiös geplant sein, ideal wäre Stillwasser. Denn was passiert auf der Barre, wenn wir zu spät kommen, wenn Wind und Wellen auf das aus dem Fluss strömende Wasser treffen? Vor den heimtückischen Tidenströmen sind wir oftmals gewarnt worden.