Dieter Loibner

Dieter Loibner

Artikel des Autors

Ressort Kein Ressort gesetzt!
Wer gewinnt, ist Held, wer verliert, ist nichts. Das ist die Dichotomie des kommerzialisierten Leistungssports. Auch beim Segeln. Die Bilder von Team Vestas Wind, das beim Volvo Ocean Race auf einem Riff im Indischen Ozean strandete, sind dazu noch frisch in Erinnerung. Boat on the Rocks. Ruder weg, Heck teilweise abgerissen. Totalschaden. Schiffbrüchige Segler, die nach dem Crash verzweifelt versuchen zu retten, was zu retten ist, aber froh sein müssen mit dem Leben davon gekommen zu sein. Ein Foto, das mir besonders nahe ging, zeigt Navigator Wouter Verbraak. Ihm fiel es zu das Boot schnell und sicher ans Ziel zu bringen. Und dann das: Ein Versager vor dem Herrn. Er steht in der dunklen Kohlefaserhöhle der Kajüte, hält sich an einer Rohrkoje fest. Er trägt schweres Segelzeug und Rettungsweste, zerzauste blonde Haare und Seemannsbart. Seine weit aufgerissenen Augen verraten, was in diesem Moment in ihm vorgeht: Entsetzen. Erschöpfung. Enttäuschung. Betretenheit. „Ich bin am Boden zerstört und stehe noch unter Schock, während ich die Heftigkeit unserer Strandung langsam zu begreifen beginne”, sagte er in einer ersten Stellungnahme. „Ich habe einen Riesenfehler begangen … Unsere geplante Route änderte sich kurzfristig und mit dem Augenmerk auf Start und schwierige Bedingungen nahm ich fälschlicherweise an, ich hätte ausreichende Informationen bei mir um diese Änderungen unterwegs zu studieren. Ich lag falsch. Ich will keine Ausflüchte machen, sondern versuche lediglich eine Erklärung zu liefern und Fragen zu beantworten.” Auch wenn nur die wenigsten wissen, was wirklich dazu gehört, eine Yacht im Renntempo bei Nacht durch ein mit Riffen verseuchtes Gewässer zu navigieren, Verbraaks Äußerungen verdienen Respekt. In seiner schwersten Stunde hat er Verantwortung für diesen Unfall übernommen. Zum Glück gab’s nur Sachschaden. Was mehr zählt: Er fand Mut, Mensch zu sein. Ein fehlbarer Mensch. Kein Verlierer, sondern ein Held.









 

Der Mut, Mensch zu sein

Ressort Kein Ressort gesetzt!
Ach, was waren wir doch arrogant. Wir, die vom Berg stiegen. Besonders gegen die Gäste aus dem norddeutschen Flachland, auch „ de Piefke” genannt, richtete sich das Gehabe. Die ticken anders, die fahren langsam Auto und noch langsamer Ski. Heilung erfolgte beim ersten Auswärtsspiel auf der Kieler Woche, wo „de Piefke” uns Barteln gezeigt haben, wo man zumindest beim Segeln den Most holt. Daran musste ich denken, als ich unlängst einen Ausflug auf der Rigmor von Glückstadt unternahm, dem ältesten noch segeltüchtigen Schiff Deutschlands. Dieser originalgetreu restaurierte (eigentlich: neu gebaute) Zollkutter aus dem Jahr 1853 ist das segelnde Wahrzeichen dieser Stadt an der Elbmündung. Betrieben wird das Schiff von einem Förderverein, dessen Mitglieder sich in den Dienst der Sache stellen. Wer schleift und pinselt, darf auch segeln und zahlende Gäste entweder um die Rhinplatte oder elbaufwärts nach Hamburg schippern. An Bord hört man mitunter auch vertraute Mundart. Helmut Sumesgutner aus Muggendorf im Piestingtal ist nämlich einer der guten Geister, die diesen Stapel Planken in Schuss halten. „Ich kam im Jahr 1962 mit einem Freund nach Hamburg, weil wir zur See fahren wollten,” erzählt Sumesgutner. „Bei den Deutschen ging das nicht, also hab ich auf einem norwegischen Frachter angeheuert.” Nachdem er die Welt gesehen und Monotonie zunehmend das Abenteuer verdrängt hat, ließ sich der gelernte Koch und Kaufmann in Schleswig-Holstein nieder. Dabei schlug das Fernweh um in Achtung und Wertschätzung fürs flache Land. Dass Sumesgutner gerne segelt, war bei diesem Prozess durchaus hilfreich. Früher machte er Touren auf der Ostsee, heute packt er auf der Rigmor an. „Das ist genau richtig für Rentner wie mich, die während der Woche Zeit haben”, lacht er. „Da kann ich helfen und mitsegeln.” Man wird das Gefühl nicht los, dass Sumesgutner nicht nur des weiten Himmels und der lakonisch-ruhigen Mentalität der Menschen wegen geblieben ist. Es hat wohl auch damit zu tun, dass das flache Land bei „de Piefke” umgeben ist von salzigem Wasser. Wasser, auf dem so alte Kähne wie die Rigmor noch unterwegs sein dürfen. Aber das haben wir Arroganten halt nicht gekannt, daham, wo man mit der Nase schnell am nächsten Berg anstößt, wenn man nicht aufpasst.









 

Exil an der Waterkant

Ressort Kein Ressort gesetzt!
Es war ein Tag, wie man ihn nicht bestellen kann. Die Juan de Fuca Sraße, die im Nordwesten die USA von Kanada trennt, trug ihr bestes Blau. Nur ein Haucherl Wind bei leichter Dünung und wenig Strom. Es war der Tag des Abschieds. Bei mir im Kajak waren zwei Kupferurnen, die von Vater Siegfried, der vor elf Jahren nach Fiddler’s Green übergesetzt war und dessen sterbliche Übereste sich seither in einem öden Urnengrab am Villacher Zentralfriehof hatten langweilen müssen, und die von Mutter Rosmarie, die im Mai nach längerem Leiden dem alten Herrn gefolgt war. Die Asche seiner Altvorderen zu verstreuen ist eine schöne, eine einmalige Pflicht. Umso schöner, wenn man diese Zeremonie im Kreis der Familie, die dem Geschehen an Deck des majestätischen Schoners Martha beiwohnt, vornehmen darf. Mit Bedacht und ganz ohne Slapstick-Effekt leerte ich den Inhalt der Kapseln behutsam in den kobaltblauen Ozean. Erst Vater, dann Mutter, so wie’s immer war. Während ihre Asche in silbrigen Kaskaden in die Tiefe sank, kamen die Erinnerungen. Zuerst an die guten Zeiten, die wir Kinder gemeinsam mit den Verschiedenen auf einem Boot verbracht hatten. Biograd, Kornaten, Limski Kanal oder Rovinj tauchten aus dem Meer der Erinnerungen auf. Aber auch weniger unterhaltsame Momente, wie der zerfetzte Spi mit den Kärntner Farben, der sich nach einem verhauten Manöver nur mit dem Messer bergen ließ. Oder jene Nacht im Hafen von Mali Losinj, in der sich Vaters Selbstbau-Kat mit schlierendem Heckanker im Sturm beinahe an der Mole aufgearbeitet hätte. Oder das Mann-über-Bord-Manöver, bei dem einer aufzufischen war, der sich, nur mit einer Ray Ban bekleidet, an einem limettengrünen Portapotti festhielt, aus dem der stinkende Inhalt gurgelnd entwich. Lehren fürs Leben, über die wir heute lachen, weil sie Teil der Familiengeschichte sind, in der an diesem Tag eine neues Kapitel begann. Ein letzter, von Tränen getrübter Blick in das Blau des Meeres verriet, dass die Ebbe den Sternenstaub unserer beiden alten Seefahrer Richtung Westen, also hinaus auf den Pazifik trug. Auf dem Schoner wurden flugs die Segel gesetzt, denn die nächste Generation will noch Meilen machen. Die Nelken, die die letzte bekannte Position von Siegfried und Rosmarie markierten, entschwanden langsam im Kielwasser.









 

Abschied von zwei Seefahrern

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Vor nicht allzu langer Zeit gab’s einen Kolumnistengipfel in San Francisco: Layline und Kreuzpeilung. An einem Tisch. Unweit des America’s-Cup-Stützpunkts von Oracle, wo früher urbane Wüste herrschte und sich heute Hipster und Nerds begegnen. Wir sprachen Kolumnistenkauderwelsch, aber es ging eigentlich um nichts Konkretes, außer dem längst fälligen Hallo, nach fast 15 Jahren Pause. Allmählich driftete der Diskurs aber in Richtung Lebensgestaltung im sechsten Jahrzehnt des Daseins. Was kann man noch wollen? Was soll man noch müssen? Vom Stress habe man beileibe genug. Ohne es zu benennen, war unser Thema das Burnout, die psychische Modekrankheit der postindustriellen Gesellschaft. Nicht nur am Arbeitsplatz, auch in der Freizeit. Manchmal wäre es doch nett, so waren die Kolumnisten einig, sich den Wind ohne Konkurrenzdruck um die Nase wehen zu lassen, anstelle sich unter Gebrüll am Start vor anderen „einepanieren” zu müssen. Wie das Abenteuer, könnte doch auch die Lust aufs Alphatier-Gehabe mal Pause haben. Wir haben es dabei bewenden lassen, wohl weil wir ahnten, dass wir Alten uns weiter beweisen wollen. Wenn schon nicht anderen, so doch uns selbst. Unlängst schlug Sir Russell Coutts, einer der erfolgreichsten Segler aller Zeiten und Teamchef von Oracle, in dieselbe Kerbe, als er zu erklären versuchte, warum die Jungen das Segeln aufgeben. „Ich kann’s ihnen nicht verübeln, es ist einfach so verdammt intensiv”, meinte Coutts. Und weiter: „Ich nehme es den 12- oder 13-jährigen nicht krumm, wenn sie anderswo Spaß suchen. Sie werden später genug Druck im Leben spüren. Das Training, das Drängen vom Coach, jedes Wochenende Regatten … Irgendwann kommt der Punkt, an dem es zu viel wird.” Da schau her, auch Coutts hat Burnout am Radar, obwohl er Segeln als Risikosport verkauft, bei dem Vollgas gegeben und ständig Koffeinbrause getrunken wird. Ich weiß, dass ich mich nicht scheue meiner Tochter eine Pause zu verordnen, wenn ich ihr damit helfen kann, dass sie nicht den Spaß an der Freud’ verliert. Aber ob ich selbst gemütlich losschippern kann, statt mich “brüllend vor anderen einezupanieren”? Wäre vielleicht einen Versuch wert, so ein Timeout gegen Burnout.









 

Timeout gegen Burnout

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Anfang April ging die Nachricht durch die Medien, dass eine kalifornische Segler-Familie, die mit ihrer Hans Christian 36 Rebel Heart nach Neuseeland unterwegs war, in einer Großaktion 900 Meilen westlich von Mexiko geborgen werden musste (siehe auch Story auf Seite ??). Steuerung defekt und die einjährige Tochter an schwerem Durchfall erkrankt. Es lief nach dem Standarddrehbuch ab: Panik, Notruf, Schiff aufgegeben und per Dampfer nach Hause. Böse Eltern, schlechte Segler, Spinner vor dem Herrn konnte man danach lesen. Dabei, so dachte ich, liegen die Kaufmans doch im Trend der Zeit: Man verlässt sich nur zu gern darauf, dass Hilfe nur einen Knopfdruck weit entfernt ist, egal, wo man sich auf diesem Planeten befindet und wie tief man in der Bredouille steckt. Vor GPS und Satellitentelefon war alles anders. Ich erinnere mich noch genau an das Rauschen im Blätterwald, als sich Solosegler Wolfgang Hausner gegen den Einbau eines Funkgeräts aussprach, weil dies doch bedeute, „dass einer damit kokettiert irgenwann einmal um Hilfe zu rufen“ und damit „von vornherein den Verlust des Bootes ins Kalkül“ ziehe. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Glenn Wakefiled, ein Kanadier, der zweimal versuchte die Erde solo und nonstop gegen den Wind zu umsegeln. Im Jahr 2008 wurde sein Boot bei den Falkland-Inseln so zu Kleinholz geblasen, dass er sich von einem argentinischen Schiff abbergen lassen musste. Das Scheitern wog dabei nicht schwerer als die Scham auf fremdem Kiel weiter zu reisen. „Niemand kritisierte mich dafür“, erklärte Wakefiled noch Jahre danach, „aber es gibt ein ungeschriebenes Gesetz unter Seglern, dass man auf sich selber aufpassen können sollte, wenn man hinausfährt. Und ich habe immer versucht, danach zu handeln.“ Klar, Leute wie Hausner und Wakefield sind nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Aber ein Handlungsprinzip, dem Selbstgenügsamkeit und Eigenverantwortung zu Grunde liegen, täte auch so manchem Freizeitskipper gut.









 

Zwei vom alten Schlag

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Februar. Und ein Sonntag, wie man ihn getrost verrinnen lassen kann. Irgendwann finde ich YouTube und die letzte Wettfahrt des letzten America’s Cups. Der Trostpreis für die Tragödie des ertrunkenen Andrew Simpson. Für die Farce der „Ausscheidung” der Herausforderer. Und für die Schummeleien im Camp von Oracle. Beim Punktestand von 8:8 ging’s um alles oder nichts. Vordergründig war’s ein Zweikampf von Kats mit Wingsegeln und Tragflügeln, die vor der grandiosen Kulisse von San Francisco mit bis zu 40 Knoten übers Wasser schossen, oft nur wenige Meter voneinander entfernt. Segeln, das es so noch nie gab. Als Zirkus und TV-Spektakel für die Massen perfekt ins Bild gesetzt. Dahinter spielten sich Duelle der anderen Art ab: Russell Coutts gegen seine ehemaligen Teamkollegen. James „Pitbull” Spithill gegen Dean Barker. Und ganz Neuseeland gegen die Milliarden von Larry Ellison. Wie es ausging, ist bekannt. Weniger bekannt ist die Partnerschaft, die half, das Fegefeuer der Eitelkeiten an diesem Ort zu entzünden. Das Geschäft, das es Larry Ellison ermöglichte, die Verteidigung in seinem Heimatrevier auszutragen und dabei seine Vision für den Cup umzusetzen. Die Zweckfreundschaft, wenn man so will, die er mit dem Automechaniker Norbert Bajurin schloss, der dem Golden Gate Yacht Club in San Francisco als Commodore vorsteht. Für Norbert, dessen Vater 1952 aus dem kroatischen Fischerdorf Hodilje in die USA floh, war es der Rettungsring, der seinen bescheidenen Club vor dem sicher scheinenden Bankrott bewahrte. Anders als die Funktionäre des noblen St. Francis Yacht Clubs schräg gegenüber, war Bajurin nämlich nicht an Machtpolitik interessiert, sondern am Weiterbestand des Golden Gate. Den half Larry mit dem Beitritt seines Teams sichern. Und für Ellison war’s die Gelegenheit, als Cupverteidiger schalten und walten zu können und Segeln damit ins 21. Jahrhundert zu katapultieren. Im Guten wie im Schlechten. * Das Buch mit dem Originaltitel The Billionaire and the Mechanic wurde von Julian Guthrie letzten Sommer veröffentlicht. Die überarbeitete und aktualisierte deutsche Ausgabe, die auch das Geschehen des 34. America’s Cups im Detail erzählt, erscheint demnächst unter dem Titel Der Milliardär und der Mechaniker im Delius Klasing Verlag. Übersetzt wurde sie von der deutschen Segeljournalistin Tatjana Pokorny und dem Autor dieser Zeilen.









 

Freundschaft mit Zweck

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Als 15-Jähriger lernte Carl Eichenlaub auf einem Eigenbau in San Diego das Segeln. Später ergriff er den Beruf des Bootsbauers, „durch Osmose”, wie er mir einmal sagte. Seine Jollen, Starboote und Eintonner machten Segler wie Lowell North, Malin Burnham, Bill Ficker, Doug Peterson oder Dennis Conner zu Legenden. Dabei hätte man Eichenlaub, dessen Dienstfahrzeug ein elektischen Golfkarren war, glatt für einen Sandler halten können: Stoppelbart, Schlapphut, Hosenträger und den abgekauten Stummel einer kalten Zigarre im Mund. Geniale Tarnung eines genialen Mannes, dessen Lebensuhr nach 83 Jahren am 29. November 2013 acht Glasen schlug. Die Anekdoten und Geschichten des Herrn Carl, der auch vortrefflich Fagott spielte (Konzerte nannte er „Fagott-Regatten”), füllen zahllose Bände. Sie belegen den Humor, den Charakter und die Cleverness dieses Mannes, der 1960 Lightning-Weltmeister war und von 1976 bis 2000 als technischer Betreuer des US Sailing Teams fungierte. Vor Jahren hielt Carl einen Vortrag über Boote auf der San Diego State University, nachdem Dennis Conner über Taktik referiert hatte. „Um sich Gehör zu verschaffen, brauchte er einen guten Spruch”, erinnert sich Mark Reynolds, mehrfacher Star-Weltmeister und zweifacher Olympiasieger, der damals als Student dabei war. Und den hatte er auf Lager. „Vergesst, was ihr von Dennis gehört habt“, sagte Carl, „das einzige, was ihr wirklich zum Siegen braucht, ist ein schnelleres Boot.“ Seine Hilfsbereitschaft war legendär, auch gegenüber Seglern anderer Länder. Den Brasilianern schweißte er bei den PanAm Games einen zerknitterten J24-Bugkorb, den Argentiniern reparierte er einen gelöcherten Lightning und den Kanadiern flickte er einen Windsurfer. Letzeres erregte beim US-Segelverband Missfallen. Wie er ihm den Ärger vergelten könne, fragte der kanadische Delegationsleiter Paul Henderson. „Ein paar kubanische Zigarren wären ein gutes Schmerzmittel”, gab Eichenlaub zurück. Und um der Hitze in seinem Werkstattcontainer Herr zu werden, schnitt er bei den Olympischen Spielen in Sydney mit dem Schweißbrenner kurzerhand Löcher in die Seitenwände. „Air Conditioning” nannte er das. Typisch Herr Carl.









 

Der Herr Carl

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„Frag mich ruhig, ich höre zu”, sagt die hübsche junge Frau in blau-weißem Ringelpullover und Jeans und nippt am Rotwein. Sie spricht ausgezeichnetes Deutsch und muss erst mal durchatmen nach ihrem Vortrag. Rappelvoll war der Hamburger Segel Club, mindestens die Hälfte der Anwesenden hat eines ihrer signierten Bücher gekauft. Mir gegenüber sitzt Laura Dekker, die Holländerin, die gerade 18 geworden ist, aber vor knapp zwei Jahren ihre Soloweltumsegelung beendet hat. Seither ist sie der jüngste Mensch, dem dies gelang, und hält damit einen Rekord, der offiziell keiner ist, weil Alter kein Kriterium mehr sein soll. Um den Erdball zu segeln, das ist dank moderner Technologie kein so unfassliches Abenteuer mehr. Dennoch ragt Dekker über ihre Kolleginnen und Kollegen hinaus, die vor ihr Ähnliches vollbrachten: Ehe sie los durfte, musste sie eine bittere und öffentlich geführte Kampagne der niederländischen Behörden durchstehen. Man bestand darauf, dass sie bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres in der Schule zu sitzen habe. Gesetz ist Gesetz. Fernschule? Vergiss es. Dass Dekker zum Segeln buchstäblich geboren ist – sie kam während der Weltumsegelung ihrer Eltern an Bord einer Yacht zur Welt – zählte nicht. Der Staat statuierte ein Exempel. Die Jugendbehörde entzog dem Vater, bei dem sie lebte und der ihr Projekt unterstützte, das Sorgerecht. Laura Dekker wurde vor Gericht geschleppt, überwacht, gehackt und abgehört. Sie wurde missbraucht. „Sie wollten mich brechen, in der Hoffnung, dass ich aufgeben würde. Aber je stärker sie versuchten, mich zu brechen, desto mehr wollte ich weg aus diesem korrupten Land …”, schreibt sie. Strukturell ist es ein Tagebuch, das von der Reise eines Teenagers um die Welt erzählt. Ehrlich und bunt bebildert. Aber es gibt Passagen, die Gänsehaut machen. Fräulein Dekker animiert die Leser mit ihrer Story zum Nachdenken. Über ein verlogenes, brutales System, das Freiheit und Individualität vorgaukelt, sich aber über Kontrolle und Konformität legitimieren muss.









 

Der Sturm vor der Reise

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Falmouth Harbor, Antigua, irgendwann im Frühling 2013. Drei Neugierige, die wir der Diskretion halber „Overboards“ nennen wollen, gehen auf Expedition und tuckern gegen Mitternacht im Gummischlapfen über das Wasser, in dem sich still die Sterne spiegeln. Tuckern ist nicht ganz korrekt, denn am Heck summt leise ein Stromquirl. Die Mission: Den Megayachten am anderen Ende der Bucht unter den Kittel schauen. Erster Kandidat: Der Kat Hemispheres, fast 50 Meter lang. Unbemerkt von den Dinnergästen im Achtercockpit schleicht sich der kleine Trupp an. Lautlos und im Tarnkappenmodus fahren sie frech zwischen den Rümpfen und damit unter dem Segelpalast durch, begleitet von fetten, faulen Tarpons, die sich im gleißenden Licht der Unterwasserscheinwerfer treiben lassen. Raus geht es zwischen den Hecks, man bleibt ungehört und ungesehen. Weiter zu Hetairos, der dunkelgrünen 67-Meter-Ketsch mit farblich passendem U-Boot an Deck. Ohne Bugspriet liegt sie da. Wiedermal defekt, wiedermal flügellahm. Daneben, auf einem etwa 25 Meter langen „Kleinkreuzer” gibt es Sitcom-Party im Cockpit mit Rotwein, Bier und Megatron-Bildschirm. In der Marina liegt die 220 Fuß lange Vertigo, ebenfalls eine Ketsch. Abgedunkelt, Gangway hochgezogen, kein Parteienverkehr. Trotzdem ist es laut. Die Generatoren brummen indiskret, man atmet mehr Dieseldämpfe ein als an einer Truck-Tankstelle. Oben in den wolkenkratzerhohen Riggs blinken roten Warnlichter für den Flugverkehr. Safety first, eh schon wissen. An der Kippe zur Reizüberflutung zieht es die Truppe heimwärts, nur noch schnell ein Abstecher zur Maltese Falcon, der angeblich größten Segelyacht der Welt. Von einem Dingi aus betrachtet ist dieser 87 Meter lange Dreimaster, dessen Segel horizontal aus den Masten gerollt werden, gefühlte anderthalb Meilen lang … Danach ist es mucksmäuschenstill an Bord. Der Murl hat gerade noch genug Saft, um in Schleichfahrt die eigene Basis zu erreichen, ein geradezu läppisch kleines 20-Meter-Schiff. Zeit für die Overboards das Gesehene irgendwie zu verdauen. Was gar nicht so einfach ist, denn die geballte pompige Prahlerei überwältigt einerseits die Fantasie, stellte sich andererseits aber auch selbst in Frage: Wie viel braucht es zum Glück und zur Zufriedenheit?









 

Maßeinheit des Glücks

1  ...  5 6 7  ...  11