Einer von 5,3 Millionen

Kolumne Jürgen Preusser: Über Haie und dringendere Sorgen

Einer von 5,3 Millionen

Hai Society. Die Chance, im Mittelmeer von einem squalo (italienisch), morski pas (kroatisch), tiburón (spanisch), requin (französisch), köpekbal??? (türkisch) oder karcharías (griechisch) verletzt oder gar getötet zu werden, entspricht etwa der eines Lottosechsers mit ein paar Zusatzzahlen.

Daniel, der Sohn eines befreundeten Skippers, geht in der Adria prinzipiell nicht baden. Egal, ob die anderen Kinder an Fendern bei drei Knoten Fahrt nachgezogen werden und dabei vor Vergnügen johlen. Egal, ob sie auf der Passarella unter Vollwäsche Wasserski fahren. Egal, ob sie mit Schnorchel und Taucherbrille bewaffnet den Anker so lang kontrollieren, bis dieser endlich wirklich nicht mehr hält.
Daniel ist ein Opfer des Spielberg-Films „Der Weiße Hai“, aber auch ein Opfer der Medien. Alle paar Jahre wird irgendwann im Juni in der Adria ein Weißer Hai gesichtet. Unentschlossenen Urlaubern mit labiler Mittelmeer-Tendenz wird die Entscheidung damit erleichtert; diese fällt zu Gunsten des alpinen und gegen das maritime Abenteuer aus. Dass die österreichische Fremdenverkehrswerbung hinter dem Phänomen stecken könnte, ist natürlich eine reine Verschwörungstheorie. Wenngleich Berichte von Giftalgen, Killerwespen, Todesquallen und anderen tödlichen Gefahren in haifischfreien Jahren verdächtig regelmäßig erscheinen.
Ja, es gibt Haie in der Adria. Sogar sehr große. Die Riesenhaie, die oft im Kielwasser großer Frachter und Tanker bis knapp vor Triest schwimmen, werden bis zu 14 Meter lang, sind Pflanzenfresser und Müllschlucker – also völlig ungefährlich. Von einem Hubschrauber aus können diese Riesenviecher recht leicht mit dem Weißen Hai verwechselt werden, tatsächlich tauchen aber auch Weiße Haie hin und wieder in der Adria auf. In der Geschichte Dalmatiens wurden bisher fünf Hai-Attacken offiziell registriert. Vier davon endeten tödlich. Der letzte fatale Hai-Unfall ereignete sich 1974 – also vor vierzig Jahren – in der Nähe von Šibenik. Damals wurde ein Deutscher von einem Weißen Hai gebissen und verblutete auf dem Weg ins Spital. Er blieb bis heute der letzte Hai-Tote in Europa. 2008 wurde ein Slowene bei Vis von einem Hai schwer verletzt. Er dürfte den Hai jedoch durch harpunierte und daher blutende Fische provoziert haben. Entlang der gesamten italienischen Küste wurden dreizehn Hai-Unfälle dokumentiert, drei davon mit tödlichem Ausgang. Der letzte ereignete sich 1960.
Weltweit sterben jährlich etwa 53 Millionen Menschen. Durchschnittlich zehn davon nach Hai-Unfällen*. Nicht zehn Millionen – nein – zehn! Das heißt: Einer von 5,3 Millionen Toten ist ein Hai-Opfer. Für Wellenreiter mag die Gefahr etwas größer sein, erreicht aber noch nicht einmal annähernd den Promille-Bereich. Der Tod des prominenten südafrikanischen Surfers David Lilienfeld durch den Biss eines Weißen Hais trug 2012 einmal mehr zur Verzerrung der Statistik bei.
Schnell noch ein paar andere Zahlen: Weltweit werden jährlich etwa 150 Menschen von Kokosnüssen und 24.000 von Blitzen erschlagen. Und die Autofahrt in den Urlaub ist etwa hunderttausend Mal so gefährlich wie der grimmigste Adria-Hai.
Apropos grimmig: Siebzig der rund 500 Hai-Arten sind vom Aussterben bedroht. Etwa hundert Millionen Haie werden Jahr für Jahr von Menschen getötet. Auf zehn Millionen tote Haie kommt ein menschliches Hai-Opfer.
Die Angst vor dem Hai ist nicht lustig, statistisch betrachtet aber lachhaft.
Daniel studiert inzwischen Mathematik. Ich gehe also davon aus, dass er schon bald einen Köpfler in die Adria riskieren wird.

*) Seit Beginn der Aufzeichnungen (angeblich seit 1580!) wurden weltweit 492 Hai-Tote bei insgesamt 2.665 Attacken dokumentiert. 27 Tote bei 49 Attacken entfallen auf europäische Gewässer. Der englische Hai-Biologe Ian K. Fergusson bezweifelt die Verlässlichkeit der Zahlen, die vom International Shark Attack File ausgegeben werden. Die relativ neue Mediterranean Shark Attack File soll für genauere Aufzeichnungen im Mittelmeer sorgen.

Weitere Artikel aus diesem Ressort

Ressort Abdrift

Die Fähre aus dem Nirgendwo

Manöverkritik. Gelegentlich sollte man touristisches Verhalten überdenken und korrigieren, bevor es ein ...

Ressort Abdrift

Quasti

Vorsätzlich. Für 2024 habe ich den Plan gefasst, mir von niemandem die Laune verderben zu lassen. Schon ...

Ressort Abdrift

Zwischen Trogir und Kangchendzönga

Lauschangriff. Törnbesprechungen fremder Crews sind mitunter lehrreich. Oft aber auch verwirrend

Ressort Abdrift

Artenvielfalt bei Panagiotis

Skipper-Typen. Zufallsbegegnungen unter dem Wellblech-Dach einer griechischen Taverne

Ressort Abdrift

Gevatters allerletzter Törn

Lehrstunden. Die unverwüstliche Weisheit eines schlauen Seehundes mit Charakter

Ressort Abdrift

Zwölf Beaufort in der Mailbox

Zehn Jahre Abdrift. Gelegentlich schreibt allerdings das echte Leben die besten Satiren