Angst verleiht keine Flügel

Sommerferien XIII. Zum Wunder Familientörn gehört ganz sicher auch eine wohl dosierte Portion Irrwitz

Angst verleiht keine Flügel

Es muss in jener Zeit gewesen sein, in der die Disco-Band Boney M. Hochintellektuelles wie „…crazy like a fool, daddy, daddy cool...“ auf Vinyl zauberte. Der Neusiedler See war fest zugefroren (kein Schmäh! Die Hundertjährigen unter euch erinnern sich vielleicht).

Ich sitz‘ auf dem Steg in Mörbisch und bind‘ meine Eislaufschuhe. Plötzlich fetzt ein Eissegler mit gut 120 km/h daher, wendet, springt aufs Eis und bringt sein kosmisches Geschoß mit der linken Hand und durch den Einsatz der Spike-Schuhe lässig zum Stillstand. Sturzhelm? Gurt? Fehlanzeige.

Unter der rechten Achsel hat er seinen dreijährigen Sohn eingezwickt. Er setzt ihn ab, der Bub rennt den Steg entlang. Der Papa, der ihn zuvor auf dem Schoß im Höllentempo nach Podersdorf und zurück pilotiert hatte, ruft ihm besorgt nach: „Bitte pass auf und fall nicht hin!“

Nie zuvor hatte ich einen derart durchgeknallten Vater gesehen. Ich kannte nur übervorsichtige Eltern. Solche, die ihren Nachwuchs durch pädagogische Mahnworte wie „du wirst dir wehtun!“ oder „du wirst runterfallen!“ zu Unfällen aller Art motivieren.

Einmal … ein einziges Mal ... ist es mir als Kind gelungen, während der Fahrt auf den Sattel meines Puch-Radls zu klettern und ein paar Meter freihändig im Stehen dahin zu rollen. Genau zu diesem Zeitpunkt erschien meine Mutter vor der Tür, um den Mistkübel auszuleeren. „Um Himmels willen!“, brüllte sie. Ich erschrak, verlor die Kontrolle und endete an einer Straßenlaterne. Mein Lenker bohrte sich in den Scheinwerfer eines mehrmals wöchentlich polierten Mercedes 280 SE, der dem mit Abstand bösartigsten Nachbarn gehörte. Jener bog genau in dem Moment mit seinem sabbernden Riesenschnauzer Dolfi an der kurzen Leine um die Ecke. Das hässliche Hundsviech erspähte meinen linken Schuh, der sich während des Aufpralls von mir verabschiedet hatte, und riss sein Herrl zu Boden.

Und der Gipfel? ICH musste mich beim geifernden Widerling entschuldigen! (Beim Herrl, nicht beim Hund.) ICH! Nicht meine Mutter! Abends brachte sich der Herr Papá mit dem zweitblödesten Sprichwort der Welt in die Erziehungskette ein: „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!“ (Das blödeste ist „Angst verleiht Flügel“, aber vielleicht hab ich es nur falsch verstanden.)

Am Tag nach dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit fasste ich einen Entschluss: Wenn ich Kinder hab‘, werd‘ ich diese durch die Luft wirbeln, ihnen Bälle nicht zuschupfen, sondern zuschießen und sie auf Bäume klettern lassen.

Ohne diesen Vorsatz, den zum Glück viele meiner Freunde teilten, wäre unsere verhaltensauffällige Familien-Flottille nie zu Stande gekommen. Schon gar nicht unsere Spezialeinsätze: Baum ausbringen – draufklettern – Salto in die Bucht schlagen. Passarella an die Dirk binden – nachschleppen – unter Vollwäsch‘ auf der Hühnerleiter Wasserski fahren. Kaffeehäferln in der Bucht versenken – wer schafft es, sie allesamt aus sechs Meter Tiefe wieder rauf zu holen?

Sogar eine Schwarze Liste für übervorsichtige Elternteile wurde aufgelegt. Für Sätze wie „lehn dich nicht so weit raus!“ oder „komm da sofort runter!“ gab es Minuspunkte. Dann wurden die Kinder unverschämt: Kommandos wie „Geschirr abwaschen!“ oder „Leinen klarieren!“ wollten sie besonders hart ahnden lassen! Also haben wir die Liste verworfen.
Heute ist die Brut erwachsen. In der Folgegeneration wird ein geglückter Purzelbaum als Stunt für ein Bruce-Willis-Movie gewertet. Turnlehrer müssen mit Klagen rechnen, weil neurotische Querulanten einen Felgaufschwung für Kindesmisshandlung halten. Handball soll ein Kriegsspiel sein? Wie absurd. Neulich hab ich ein Kind mit Vollvisierhelm gesehen. Auf einem Dreirad! Die Horrorvision: Kinder-Regatten an langen Landleinen – also quasi online. Optimist war gestern. Neue Bootsklasse: Pessimist.

War der irrwitzige Eissegler vom Neusiedler See vielleicht gar kein schlechter Papa, sondern einfach ein waschechter Daddy Cool?

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