Wir segeln aus der Abseitsfalle
Familientörn XV. Historisch betrachtet passen Segeln und Fußball eigentlich ganz gut zusammen
Vor einigen Tagen in einer Konoba auf der Insel Vis: Ein dicker Skipper aus München erklärt lautstark: „Fuaßboi losst mi eiskoit.“ Minuten später knallt er mit drei Krügen Karlovačka in den Händen gegen eine Säule und duscht mit eiskaltem Bier. Das passiert normalerweise nur, wenn der FC Bayern die Bundesliga gewinnt. Wie es dazu kam? Der angeblich so eingefleischte Fußball-Ignorant hat auf dem Bildschirm hinter der Bar das Tor zum 3:0 der Italiener gegen die Türkei gebannt mitverfolgt. Dieses erste Match der EURO 2021 war auch schuld daran, dass er das Bier selber holen musste: „Wenn Fußball ist Kenig, dann Gast ist nix Kenig“, entschuldigt sich der Wirt.
23 Jahre vorher: „Fußball ist urfad.“ In diesem Punkt sind sich die sieben Mädchen und sechs Frauen unserer Familienflotte im Sommer 1998 einig. Die sechs Buben und sechs Männer sehen das anders. Die WM ist gerade mit einem 3:0 Frankreichs gegen Brasilien ausgeklungen. Kroatien wurde Dritter! Zu allem Überfluss erreichte Goran Ivanisevic auch noch das Wimbledon-Finale. Seine Heimatstadt Split befindet sich seit Tagen im doppelten Ausnahmezustand.
Volksfest ohne Ende – und wir mitten drin! Statt durch Souvenirläden zu bummeln, tanzen wir auf offener Straße mit Wildfremden – auch die Kinder. Anstelle von Handtaschen, Badeschwämmen und Lavendelsackerln werden ausschließlich Fußballdressen gekauft. Bald sind alle 13 Kinder mit Trikots von sechs EM-Teams ausgestattet. „Mama, darf ich Nummer 3 von Frankreich?“, fragt ein Mädchen, das den Spielernamen Lizarazu nicht aussprechen kann. Ein Achtjähriger heckt die grandiose Idee aus, einen Fender mittels Permanent Marker mit dem Schriftzug „ALLEZ LES BLEUES“ zu verzieren. Wir müssen ihn auch noch loben, weil er seine Sympathiebekundung in perfektem Französisch ohne Rechtschreibfehler verfasst hat. Im Eissalon wird nicht nach Geschmacksrichtung, sondern nach Nationalfarben bestellt. Eine junge Dame entwickelt einen beeindruckenden Hautausschlag, nachdem sie trotz Allergie drei Kugeln Mango-Eis bestellt hat. „Die sind so schön orange wie Holland!“ Sie trägt das Oranje-Trikot mit der Nummer 9, obwohl sie höchstens halb so groß ist wie das Original Patrick Kluivert.
Wenn irgendwo am Horizont ein bunter Spinnaker aufgeht, der farblich zu einem der WM-Teams passt, stimmen die Kinder unseren Törn-Song zur Melodie von „Always Look on the Bright Side of Life“ an. Refrain: „Owen, Suker, De Boer, Lizarazu – Zidane, Zidane – Zidane, Zidane, Zidane…“ Unsere Segelambitionen laufen quasi in die Abseitsfalle.
Heute ist WM-Schützenkönig Davor Suker kroatischer Fußball-Präsident, Frank De Boer Hollands Teamchef und Zinedine Zidane war zuletzt Trainer von Real Madrid. Unsere Kinder sind längst erwachsen, die meisten haben selber Kinder. Denen werden sie irgendwann den Song vom WM-Törn 1998 vorsingen und vom schönsten Urlaub aller Zeiten schwärmen. Das Wunder Familientörn kann nicht bunt genug sein.
Erratum
Geschätzter Jürgen,
ich lese mit Begeisterung deine Abdrift. Mit deinen Schallsignalen vom Juni 2021 bin ich nicht einverstanden: Lang – Kurz, Kurz = Schlepper, Kabelleger, Tonnenleger, Vermesser, Fischer, Minensucher, manövrierunfähiges Fahrzeug.
Lang – Lang, Kurz = Ich will an ihrer Steuerbordseite überholen. War es Absicht, um zu überprüfen, ob deine Texte auch genau gelesen werden?
Willi Bachinger
Lieber Willi,
Keine Absicht: Das kommt davon, wenn man ein Erlebnis falsch in Erinnerung behalten hat, dann aber zu faul ist, es nachzuprüfen: Vielen Dank für Aufklärung und Richtigstellung. Auch nach 78 Törns zahlt es sich aus, ab und zu einen Blick in die KVR bzw. in die Seemannschaft zu werfen.
Danke,
Jürgen
Verehrte Leserschaft,
Bitte ersetzen Sie in Yachtrevue 6/21 Lang! Kurz! Kurz! durch Lang – Lang, Kurz! Auch Satire muss einen wahren Kern haben!
Jürgen Preusser