Auf hoher See
Die Dämmerung neblig-kalt, aber im wohlig-warmen Wohnzimmer steht eine dampfende Tasse Tee ebenso bereit wie duftender Lebkuchen. Auf einmal ein lautes, dumpf-kratzendes Geräusch. Ich schaue durch die Terrassentüre – und erblicke einen riesigen Container, der unseren zugegebenermaßen sehr klein geratenen Garten fast gänzlich ausfüllt. Rasch eile ich hinaus und sehe eine leicht verschmutzt wirkende Gestalt hinter dem Container hervorkommen.
Ist das etwa …? In der Tat, das Weihnachtsengerl, das ich ob seines Aussehens fast nicht erkannt hätte. Das lockig-blonde Haar versteckt sich unter einem verschrammten Schutzhelm, die Flügel sind in einen abgewetzten Overall gezwängt, die zierlichen Füße in groben Gummistiefeln verborgen. Nach Austausch einer herzlichen, wenn auch angesichts des Aufzugs eher vorsichtigen Begrüßung deute ich fragend auf den Container. Mein gefiederter Freund erläutert mir umgehend, dass er dieses Jahr vom Allerhöchsten einen Spezialauftrag erhalten habe. „Rund 40.000 Handelsschiffe sind auf allen Meeren unterwegs und bewältigen etwa 90 Prozent des weltweiten Warenverkehrs. Etwa ein Drittel der Schiffsbewegungen haben einen Ziel- oder Abfahrtshafen in eurer Gegend, also in der EU“, doziert der Himmlische. „Du kannst dir vorstellen, dass da eine Menge Leute unterwegs sind, viele an schlechte Verträge gebunden, oft mit Sicherheitsstandards, die trotz diverser Bestimmungen nicht eingehalten werden. Die brauchen mich dieses Jahr besonders. Petrus hat mir daher gestattet, mein übliches Sackerl durch den Container zu ersetzen.“ Ich frage nach der Art der Zustellung, denn das stelle ich mir selbst für einen Himmlischen nicht ganz einfach vor. „Das lass mal meine Sorge sein“, entgegnet mein Freund.
Bevor ich weiter in ihn dringen kann, verabschiedet sich das Weihnachtsengerl auch schon wieder, nicht ohne mich zu bitten, der p.t. Leser/innenschaft die obligate Handbreit Wasser unter dem Kiel zu wünschen. Der Container war, Abdruck im Garten hin oder her, dann ebenfalls weg …