Ordination Ankerbucht

Bekannte zu treffen, zählt zu den netten Überraschungen eines Törns. Nicht aber für Ärzte

Ordination Ankerbucht

Endlich! Drei Wochen lang keine Patienten, die mit der fertigen Diagnose von Medizinalrat Dr. Google in der Ordination erscheinen. Keine Hypochonder, die an all jenen Krankheiten leiden, von denen sie gerade in der Zeitung gelesen haben. Keine Männerschnupfenopfer, die ohne vereinbarten Termin im Wartezimmer nach der Sauerstoffflasche winseln. Urlaub! Nur noch Sonne, Wind und stille dalmatinische Buchten.

Zu schön um wahr zu sein.

„Herr Doktor! So ein Glück! Sie erinnern sich? Ich bin der mit den Hämorrhoiden!“ Gerhard erkennt Herrn Dworak tatsächlich, und zwar von hinten, da jener gerade unaufgefordert von unserer Badeplattform aus sein Dingi festmacht. Dr. Gerhard ist einer meiner besten Freunde. Deshalb sagt mir sein Blick mehr als tausend Worte: Das Spektrum reicht von „Gisela, reiche mir das Skalpell!“ bis „Tauchen Sie nach einer Seegurke und verwenden Sie diese als Zäpfchen“.

Doch Gerhard ist viel zu höflich und sagt stattdessen: „Oh, Herr Dworak! So ein Zufall! Ich schau’, was ich für Sie tun kann.“ Herr Dworak bekommt eine Salbe und ist darüber so glücklich, dass er unsere gesamte Crew an seiner hinter(n)gründigen Krankengeschichte teilhaben lässt. Eine geschlagene Stunde später sagt er: „Eine kleine Bitte hätt’ ich noch, Herr Doktor. Darf ich meine Frau rüberholen? Die hat so furchtbare Migräne.“ Und Gerhard hätte am liebsten gesagt: „Vielleicht liegt das ja an Ihnen“ oder „Rufen Sie die Küstenwache“ oder „Oje, da werden wir um eine Gehirnamputation nicht herum kommen.“ Doch er ist eben viel zu höflich und lebt den Eid des Hippokrates: „Geben Sie ihr dieses Pulverl und alles wird gut.“ Doch Dworak ist unerbittlich. „Nein, nein! Das müssen Sie ihr selber geben, Herr Doktor! Mir glaubt sie ja nichts.“

Neunzig Minuten später ist unsere Crew nicht nur über Frau Dworaks aufwühlenden Leidensweg, sondern auch über die Tragödie ihrer ersten Ehe lückenlos im Bilde. (Psychoanalytisch besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen ihrer Geschichte und Herrn Dworaks Hämorrhoiden). Doch da brennt noch was anderes unter Frau Dworaks lackierten Fingernägeln: „Herr Doktor, mein Bruder ist auch drüben auf dem Schiff, er laboriert seit Wochen an …“

Mir reicht’s: „Gerhard, wir wollten doch eine Nachtfahrt nach Italien machen!“ Die Zauberformel! Anker auf und volle Wäsch’ Richtung Ancona.

Kaum ist Dworaks Schiff außer Sicht, nehmen wir Kurs auf die nächste Bucht derselben Insel. Wir tuckern knapp an der einzigen dort ankernden Yacht vorbei. „Oh, Herr Doktor! Das nenn’ ich Schicksal!“ Diesmal schweigt sogar Gerhard: Der UV-geschwärzte Herr ist nicht nur ein überaus unangenehmer Patient. Herr Professor Stremnitzer hätte zudem Gerhards akademische Karriere vor knapp vierzig Jahren um ein Haar im Keim erstickt: Mathematik-Pauker der übelsten Sorte, humorloser Sadist vom Format des abscheulichen „Gott Kupfer“ in Torbergs Roman „Schüler Gerber“. Schon in der Ordination hätte Gerhard den Widerling am liebsten mit einer rostigen Veterinär-Spritze aus dem Schönbrunner Nilpferdgehege geimpft.

„Helfen Sie mir, ich hab’ fürch-ter-lich-en Durchfall“, jammert Gott Kupfer. Wie oft hatte Schüler Gerhard dem Kerl eine Fischvergiftung gewünscht! Doch jetzt treibt ihm das Kindheitstrauma den Schweiß auf die Stirn. Seine Hände vibrieren. Ich darf nicht länger schweigen: „Setzen Sie die gelbe Quarantäneflagge und verwenden Sie einen Leckstopfen. Den finden Sie in der Notfallbox.“ Gott Kupfer erstarrt, als wäre es für den Leckstopfen bereits zu spät. Gisela hat inzwischen über Notkanal 16 einen Funkspruch empfangen. „Du, Gerhard“, ruft sie, „Frau Dworak hat noch eine dringende Frage …“

Einundzwanzig Stunden später haben wir im garantiert patientenfreien Industriehafen von Ancona festgemacht und sehr viel Wein getrunken …

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