Navigare necesse est1)

Noch erschöpft vom Slalom zur Vermeidung vorweihnachtlicher Punschstände nippe ich im Wohnzimmer an einem heißen Tee, als mich leises Geklirre am Fenster irritiert. Ein rascher Blick zeigt schwache Umrisse einer Gestalt, die mich an einen Admiral erinnert. Ich zwinkere, aber kein Zweifel: Die Gestalt bleibt und scheint mir sogar auffordernd zu winken. Sollte das etwa …?
Sofort eile ich zum Fenster, öffne – und herein bewegt sich, auffallend würdig, mein gefiederter Freund, das Weihnachtsengerl. In bester k. u. k. Kriegsmarinetradition mit allen Insignien eines Admirals ausgestattet steht das Engerl da. Meinen fragenden Blick beantwortet es gerne: „Na, da ihr ja laut Dezember-Rangliste der ISAF die fünftbeste Segelnation der Welt seid, übrigens: Chapeau dafür“ – das Engerl verbeugt sich und lüftet leicht die Admiralskopfbedeckung – „habe ich mir gedacht, ich komme bei dir ohne entsprechende Aufmachung gar nicht mehr beim Fenster herein.“
Ich bin noch immer sprachlos, im Gegensatz zum Engerl: „Ihr habt ja eine umfassende maritime Vergangenheit!“ Republikanische Reflexe und Grant auf die den Zerfall Altösterreichs fördernden Habsburger machen die österreichische Militärgeschichte vor der Ersten Republik zu einem meiner blinden Flecken. Das Engerl scheint das zu ahnen und lächelt leicht. „Du weißt ja sicher um die große Rolle der österreichischen Handelsflotte schon im frühen 18. Jahrhundert und die Bedeutung des Österreichischen Lloyd, der als bedeutende Reederei beispielsweise im 19. Jahrhundert regelmäßig bis nach Hongkong und Singapur fuhr.“ Das Engerl wurde ein wenig ernster. „Und eure Kriegsmarine erst. Klein angefangen, zum Schutz gegen Adria- und Mittelmeerpiraten, aber dann durchaus oho. Ich sage nur: griechischer Freiheitskampf um 1820, Marokko und Syrien in der ersten, Frankreich, deutsch-dänischer Krieg in der zweiten Hälfte des 19., Boxer-Aufstand in China zum Beginn des 20. Jahrhunderts, vom Ersten Weltkrieg ganz zu schweigen – Respekt, wenn man das in diesem Zusammenhang aus der Sicht eines Himmlischen überhaupt sagen kann“, schloss der Gefiederte. „Und Admiräle wie Tegetthoff, Montecuccoli oder Haus – tja, wer hat, der hat. Und, wie die neuen Resultate zeigen, hat offensichtlich noch immer.“
Plötzlich verschwammen mir die Bilder, ich sah Roman Hagara und Hans Peter Steinacher mit Bordkanone statt Spinnakertrompete am Tornado flitzen, Andreas Geritzer in Admiralsuniform statt Taucherhaut am Laser hängen, unser k. u. k. Schlachtschiff Viribus Unitis durch den Schlamm des Neusiedler Sees pflügen – und dann wachte ich auf. Hatte ich nur geträumt? Aber da lag neben mir ein Zetterl am Tisch: „Richte deiner p. t. Leserschaft die besten Wünsche für 2006 und eine obligate Handbreit Wasser unter dem Kiel aus. W. E.“
Was ich hiermit tue, wie immer gerne, aber diesmal leicht verwundert …

1) Lat., vollständig: Navigare necesse est, vivere non necesse est (Schifffahrt ist notwendig, Leben ist nicht notwendig). Dem römischen Feldherrn Pompeius zugeschrieben, der damit seine Soldaten zum Ausfahren bei Sturm im Dienste eines höheren Zweck ‚motiviert‘ haben soll.

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