Lang! Kurz! Kurz!

Hand aufs Herz: Wer von euch kennt schon diese verdammten Schallsignale?

Lang! Kurz! Kurz!

Zwanzig Knoten Maestral von achtern. Hinter uns die späte Nachmittagssonne. Vor uns die in flüssiges Gold getauchte Skyline der Stadt Split. Volle Konzentration beim Schmetterling-Segeln. Ein Hauch von Wehmut, weil dieser legendäre Vorwind-Ritt mit zehn Knoten wohl das Ende einer traumhaften Übungswoche gewesen sein wird.

Plötzlich fährt uns ein Schallsignal durch Mark und Bein: LANG! KURZ! KURZ! Eine Geräuschfolge in beängstigender Lautstärke. Ist die Titanic gegen unsere Badeleiter gefahren? Keiner von uns hat in der vergangenen Viertelstunde nach hinten geschaut – jetzt drehen sich alle gleichzeitig um.

Eine Kabellänge hinter uns dampft eine stattliche Jadrolinija-Autofähre daher; vermutlich aus Ancona. Und noch einmal: LANG! KURZ! KURZ! Verflucht! Was heißt das? Sechs angehende oder frischgebackene Segelschein-Besitzer, sieben unqualifizierte Meinungen. Die Prüfung ist offenbar doch schon zu lang her. Oder noch zu weit weg? Die Fähre ist jedenfalls zu nah, um die Bedeutung des Schallsignals im Skriptum nachschlagen zu können.

Die Kommentare an Bord sind vielfältig, aber einheitlich hysterisch: „Fall ab!“ – „Luv an!“ – wobei keines der beiden Kommandos in dieser Situation auch nur die geringste Aussicht auf Umsetzung hat. Der Rudergänger besitzt keinen Segelschein, weiß nicht, was beim Schmetterling-Segeln unter Anluven respektive Abfallen zu verstehen ist. Soll er jetzt dem Großbaum oder dem Spinnaker-Baum nachfahren? Im Zweifel hält er Kurs.

„Weich‘ doch aus!“ – „Nein, wir haben Vorrang, heast!“ Zwei weitere sinnbefreite Kommandos von ein paar echten und ein paar falschen Skippern, von denen derzeit in Wahrheit keiner befugt ist zu kommandieren. Jeder sollte wissen, wie wichtig es jetzt wäre, den Mund zu halten und nachzudenken. Doch nur einer tut es: Der Rudergänger. Der hält Kurs.

Weitere Kommando-Fetzen folgen in beeindruckender Kakophonie: „Scheiße, gib Vollgas!“ – „Geh bitte! Bleib‘ stehen!“ – „Bist du deppert? Sofort schiften!“ – „Wir sind erledigt!“ – „Oh, Gott!“ – Der Rudergänger? Eh schon wissen.

„Stehende Peilung! Stehende Peilung!“, brüllt einer schulmäßig und richtig, was in dieser Situation genauso hilfreich ist wie „Pfirsichkompott! Pfirsichkompott!“ Der Rudergänger? Hält Kurs. Allein dafür gebührt ihm ein Segelschein.

Jetzt erst taucht der echte Skipper total verschlafen im Niedergang auf.

LANG! KURZ! KURZ! Das Schiffshorn bläst ihn zurück in den Salon. Die Fähre ändert den Kurs und überholt uns an Backbord mit gut zwanzig Knoten Fahrt. Auf der Kommandobrücke lehnt der Kapitän in weißer Uniform, winkt uns mit breitem Grinsen und zeigt mit dem Daumen nach oben.

Er weiß, was er tut. Er weiß auch, was wir tun! Er ist sicher selber Segler. Einer, der womöglich lieber mit uns segeln würde. „Besser als Blechschüsseln über die Adria zu karren“, denkt er vielleicht. Wahrscheinlich ahnt er sogar, welches Chaos er bei uns an Bord angerichtet hat und grinst deshalb so deppert ...

Seit diesem wunderbaren Erlebnis werde ich zwei Dinge nie vergessen: Erstens L A N G! heißt „Achtung“, KURZ! KURZ! „Ich überhole an Backbord“. Zweitens: Da draußen sind ein paar Profis unterwegs, die das Wissen und die Erfahrung aller Freizeitkapitäne in der kleinen Zehe des linken Fußes haben. Bestimmt sind nicht alle so freundlich wie dieser Jadrolinija-Kapitän, doch höchstwahrscheinlich nicht so unberechenbar wie die eigene Crew.

Eine Warnung des leider verstorbenen Segelschein-Prüfers Kurt habe ich noch im Ohr: „Hüte dich vor FFF: Fischer, Fähre, Frachter!“ Nach etwa 75 Törns weiß ich aber auch, dass genau diese FFF stets etwas viel Gefährlicheres im Blick haben. Und zwar die unendliche Reihe TTTTTTT… Die steht für the tourists, los turistas, i turisti, Οι τουρίστες, les touristes, de toeristen, os turistas, turistii, turisterna, turistov, turistler, a turisták, turysta, turistene, it-turisti, na turasóirí …

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