Der Dingi-Führerschein

Der zwanghafte Trieb der Erwachsenen ihre Kinder zu erziehen und zu entmündigen, macht auch beim Thema Gummiboot nicht Halt

Der Dingi-Führerschein

Erstens hatte der Neunjährige dem Dreizehnjährigen soeben um ein Haar das rechte Ohr geschnetzelt, weil er dem Drang nicht widerstehen konnte, an einem bestimmten Schnürl zu ziehen. Das Schnürl hatte ganz besonders verlockend gewirkt, weil davon nur ein Plastikdreieck sichtbar war. Das Dreieck befand sich am Außenbordmotor, der wiederum war am Heckkorb der Yacht befestigt. Die Schraube zeigte Richtung Badeplattform – genau in Ohrhöhe des Dreizehnjährigen. Normalerweise muss man an diesem verfluchten Schnürl achtzehn bis unendlich Mal ziehen, um den Motor in Gang zu bringen, diesmal röhrte er beim ersten Mal auf wie einst die Zündapp vor der Disco.
Zweitens waren die sechs Mütter und sechs Väter der insgesamt dreizehn Kinder not amused, als drei halbstarke Splittergruppen das unüberlegte Kommando „Dingi wassern!“ innerhalb von Sekundenbruchteilen umsetzten. Die lateralen Opfer: eine Sonnenbrille, vier Bikini-Oberteile, ein Maulkorb, ein Handy-Kopfhörer, ein Hawaii-Muster-Badetuch, eine Taucherbrille, sieben Wäschekluppen, eine Rosamunde Pilcher (Paperback) und eine Donna Leon (Hardcover). Da zwei der drei Dingis natürlich mit den Sitzbänken nach unten auf die Wasseroberfläche klatschten, war auch das Unterfangen „Damenkränzchen bei Prosecco im Strandcafé“ vorerst auf Eis gelegt.
Drittens haben Benzinhähne generell die Eigenschaft zugedreht zu sein, obwohl sie „ganz sicher, Papa!“ mehrfach geöffnet wurden, wodurch viertens der Motor nach hundert Metern genau in der Mitte der Bucht abstirbt, fünftens der Ruf „Mamaaaaa, wir haben die Paddel vergessen“ zu einer – sechstens – nicht geplanten Schwimmeinheit führt.
Deshalb waren sich siebentens schon am ersten Abend alle Erwachsenen einig: Ein Dingi-Führerschein muss her!
Wir opferten den folgenden Vormittag, um die Kinder in die Geheimnisse von Schlauchboot und Außenborder einzuweihen. Die Instruktionseinheit begann damit, dass Vater Nr. 1 beim schulmäßigen Runterheben des Außenborders auf einem Sonnencreme-Fleck ausrutschte und sich dabei das Schienbein blutig schlug. Sein heldenhafter Einsatz, mit dem er verhinderte, dass der Motor als Zweitanker versenkt wurde, erntete nicht etwa die hoch verdienten Huldigungen sondern schallendes Gelächter. Sogar Bordhund Rosi stimmte mit vergnügtem Bellen ein. Ohne Maulkorb.
Gleichzeitig jagte Vater Nr. 2 auf Yacht Nr. 2 mit einer besonders praktischen Patronen-Pumpe zu viel Pressluft in sein Dingi, wodurch das zweite Ventil mit einem weit hörbaren „Flumppp“ in hohem Bogen über die Reling schoss und sich die Gummiwurst eine gute Minute lang originell furzend entlud. Reaktion – siehe oben.
Vater Nr. 3 auf Yacht Nr. 3 war ohne Zwischenfall bereits bei der Lektion „Rudern“ angelangt, als einer der Riemen in zwei Teile zerfiel. Laut Echolot verweilte das Ruderblatt auf 8,7 Metern Wassertiefe. Der Rest des Vormittages wurde mit unkontrollierten Tauchgängen im trüben, weil völlig aufgewühlten Wasser verplempert. In diesen Stunden verpassten wir übrigens den besten Segelwind der gesamten vierzehn Törn-Tage.
Die triumphale Ausbeute der Tiefseetaucher: Zwei Sonnenbrillen, keine davon die von uns vermisste, Rosis Maulkorb, ein albanischer Rasierapparat, eine Kluppe, ein muschelbewachsenes, sich noch in der Plastikhülle befindliches Perry-Rhodan-Heft, Jahrgang 1988, und … tatsächlich, das versenkte Ruderblatt.
Bevor Sie wieder fragen: Ja, ich glaube noch immer an das Wunder Familientörn.

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