Anker
Das Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe gibt eine Weihnachtskantate von Johann Sebastian Bach, die Teetasse dampft, die Vanillekipferln auf dem Teller sind schön drapiert – ein gemütlicher Adventabend bahnt sich an. Plötzlich Kettenklirren auf der Terrasse. Ein Krampus? Ich reibe mir ungläubig die Augen – das Weihnachtsengerl in seltsamem Outfit. Es ist mit Eisenketten unterschiedlicher Stärke beladen, über den Schultern hängen schwere Trümmer, die sich bei näherem Hinsehen als Anker entpuppen.
Mühsam schleppt sich das Engerl weiter und legt die Anker vor der Türe ab. Sichtlich erleichtert betritt es das Haus. Ich lasse den Gefiederte ein wenig verschnaufen, dann stelle ich die sich aufdrängende Frage: „Was bitte soll dieser Aufzug?“ Das Engerl antwortet umgehend: „Auftrag von ganz oben, unterstützt vom Hl. Nikolaus, dem Patron der Seefahrer und Binnenschiffer. Der Oberboss hatte dieses Jahr wieder alle Hände voll zu tun mit den Freizeitskippern in ihren Ankerbuchten. Nimm alleine die erste Septemberwoche in der Adria: Hundewetter, Gewitter, 30 Knoten plus. Weißt du, wie viele Schiffe und Besatzungen ihre Sicherheit dem da verdanken“ – theatralisch deutet der Himmelsbote auf die Anker und Ketten – „und auch uns Himmlischen, die wir slippende Anker wieder vergraben, und beim Ankerwinschen geholfen haben?“ Mein gefiederter Freund schaut mich fast zornig an. „Und was tut ihr? Konzentration auf allerlei verdächtiges Gebräu an Bord, aber stoische Gelassenheit was die zum Teil deutlich unterdimensionierten oder für das Gewässer schlecht geeigneten Anker betrifft! Müssen wir immer aushelfen?“
Ich lasse meinen Blick schweifen über die imposante Sammlung von Danforth, Pflugschar, Bruce, Jambo & Co. „Ja, ich weiß, ich spreche zu den Bekehrten“, sagt das Engerl. „Aber es ist ein Jammer, wenn man sich den richtigen Anker eigentlich selbst mitbringen muss.“ Sprach’s, machte – nicht ohne den obligaten Segenswunsch für die Handbreit Wasser unter dem Kiel zu übermitteln – kehrt und war wieder verschwunden. Aber was lag da? Tatsächlich, ein 30kg-Jambo. Ein Zeichen des Himmels?