Die Speisekarte macht nicht satt
Ohne Zugriff auf digitale Welten geht heute (fast) nichts mehr. Das Handy, längst vom Telefon zum elektronischen Allzweckwerkzeug mutiert, erschließt ebendiese im Alltag auf einfache Weise. Das mag man je nach Standpunkt und Umstand bejammern oder begrüßen, Fakt ist: Digital-ohne ist bis auf weiteres nicht mehr vorstellbar.
Die digitale Revolution hat auch den Segelsport auf allen Ebenen voll erfasst. Am High-end war beim letzten America’s Cup sichtbar, dass Datenerfassung und -auswertung der Formel 1 um nichts nachstehen. Aber auch wir normale Erdlinge prüfen Startlinien und unseren Abstand davon digital, holen uns Wetterinformationen über Windfinder, Regenradar & Co. und planen unsere Törnroute bequem am Tablet mithilfe von nv charts, navionics o.ä., um sie dann aufs Handy zu spielen und, bequem am Achterstag lümmelnd, laufend mit der aktuellen Position zu vergleichen. So weit, so gut.
Das Problem beginnt dort, wo wir anfangen, die Speisekarte mit dem fertigen Essen zu verwechseln und ersteres wichtiger als „the real thing“ zu nehmen. Von vielen erlebten Beispielen nur eines aus letzter Zeit. Neusiedl am See, Sommernachmittag, angesagt ist die Möglichkeit von Gewittern – sollen wir trotzdem für ein bis zwei Stunden aussegeln? Mein Gegenüber zückt in flüssiger Bewegung sein Handy, konsultiert drei unterschiedliche Apps und verkündet dann selbstsicher: 80% Wahrscheinlichkeit von Regen und Gewitter, wir bleiben im Hafen. Parallel dazu scanne ich die Wetterlage in natura: Fernsicht rund 80 Kilometer, ein paar Cumuluswolken im Westen, ganz weit Richtung Ungarn etwas, das sich vielleicht in Richtung Gewitter entwickeln könnte – aber nicht in den nächsten eineinhalb Stunden. Also mein Vorschlag: Wir laufen aus. Wie es ausging? Erraten: Wir blieben im Hafen, die Magie der Zahlen aus dem Internet schlägt fast alles. Seglerisch satt wurden wir allerdings nicht. Daher meine dringende Bitte: Nehmen wir die Speisekarte ruhig als Orientierung, begründen wir aber unser finales Urteil mit dem, was wir vor uns sehen …